LESUNGEN FÜR ZUHAUSE

Historische Veranstaltungen aus der Österreichischen Gesellschaft für Literatur

Um die veranstaltungsfreie Zeit mit literarischen Stimmen zu füllen, postet die Literaturgesellschaft nun jeden Tag eine Lesung, die bei uns stattgefunden hat, zum Nachhören zu Hause. Sie finden die Lesungen auf unseren sozialen Medien-Kanälen:

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HIER EINE ÜBERSICHT:


16.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #1    

Andreas Okopenko: »Die Belege des Michael Cetus« 



Andreas Okopenko (1930-2010) hätte gestern, am 15.3., seinen 90 Geburtstag gefeiert. Er zählt zu den wichtigsten österreichischen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – allerdings, völlig zu Unrecht, nicht zu den bekanntesten.


In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1963 und 2009 insgesamt neunzehn Mal auf, unter anderem am 22.3.1966, als er anlässlich der Verleihung des Anton Wildgans-Preises aus der zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Erzählung »Die Belege des Michael Cetus« las:
https://www.mediathek.at/atom/01782A32-1D5-00A1A-00000BEC-01772EE2


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17.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #2



Hilde Spiel: »Die Welt im Widerschein« (Einführung: Heimito von Doderer)

Österreichische Gesellschaft für Literatur, 1. Oktober 1965
https://www.mediathek.at/atom/015D7BBC-1AD-001A4-00000D20-015CD0E3



Hilde Spiel (1911-1990) galt als Grand Dame der österreichischen Nachkriegsliteratur. Sie veröffentlichte Romane, Erzählungen, Essays und eine großartige Autobiografie in zwei Bänden (»Die hellen und die finsteren Zeiten«, 1989 und »Welche Welt ist meine Welt«, 1990). Zudem war sie eine der einflussreichsten Literaturkritikerinnen im deutschen Sprachraum.


In der Literaturgesellschaft trat sie zwischen 1964 und 1982 fünfzehn Mal auf. 

Am 1. Oktober 1965 las sie aus ihren Essays »Die Welt im Widerschein«. 
Ein besonderes Zuckerl ist die Einführung Heimito von Doderers, den mit Hilde Spiel eine lange Freundschaft verband. Nicht zuletzt war ihre euphorische Rezension seiner »Strudlhofstiege« ein wichtiger Grundstein seiner großen Karriere ab 1951 gewesen.  

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18.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #3



Otto Grünmandl und Theo Peer: »Meinungsforschung im Gebirge«

Österreichische Gesellschaft für Literatur, 2. März 1973
https://www.mediathek.at/atom/01782986-140-007FC-00000BEC-01772EE2



Otto Grünmandl (1924-2000) war Schriftsteller, Kabarettist und Volksschauspieler. Gemeinsam mit Theo Peer führte er ab 1970 »Alpenländische Interviews« durch, die auf Ö3, später auch in vielen anderen Sendern ausgestrahlt wurden. Sie machten ihn im ganzen deutschsprachigen Raum populär.
Weitere Informationen zu Otto Grünmandl finden Sie im ›Lexikon Literatur in Tirol‹:  https://orawww.uibk.ac.at/apex/uprod/f?p=TLL:2:0::::P2_ID:219

In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1972 und 1985 dreimal auf.
Am 2. März 1973 führte er gemeinsam mit Theo Peer im Rahmen des ›literarischen Faschings‹ Interviews aus »Meinungsforschung im Gebirge« auf.

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19.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #4



Barbara Frischmuth: »Die Mystifikationen der Sophie Silber« (einführendes Gespräch: Wolfgang Kraus)

Österreichische Gesellschaft für Literatur, 1. Oktober 1976
https://www.mediathek.at/atom/017829E7-131-00938-00000BEC-01772EE2



Barbara Frischmuth (geb. 1942) zählt seit vielen Jahren zu den wichtigsten österreichischen Autorinnen. 

»Die Klosterschule«, ihr erster Roman, erschien 1968, ihr bislang letzter, »Verschüttete Milch«, im Jahr 2019. Dazwischen veröffentlichte sie mehr als 50 Bücher, darunter zahlreiche Kinderbücher, aber auch Theaterstücke, Hörspiele und vieles mehr.

In der Literaturgesellschaft trat sie seit 1968 bisher 24 Mal auf. 

Am 1. Oktober 1976 stellte sie im Rahmen einer Veranstaltung der Literaturgesellschaft ihren Roman »Die Mystifikationen der Sophie Silber« vor. Am Beginn der Aufnahme ist sie im Gespräch mit Wolfgang Kraus, dem Gründer und damaligen Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, zu hören.

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20.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #5



Frederic Morton: »Ewigkeitsgasse« (einführendes Gespräch: Wolfgang Kraus)

ÖGfL-Veranstaltung im Hotel Hilton International, Am Stadtpark, 27. Oktober 1987
 https://www.mediathek.at/atom/0174351D-339-01BD1-00000DBC-01733A62



Frederic Morton, geb. Fritz Mandelbaum, (1924 – 2015) floh 1939 mit seiner Familie aus Wien nach England und emigrierte schließlich 1940 in die USA. Nach seinen Studien der Nahrungsmittelchemie und Literaturwissenschaft arbeitete Frederic Morton als freier Schriftsteller sowie als Kolumnist u.a. bei ›The New York Times‹.


Zu seinen berühmtesten Werken gehören u.a. das Familienporträt »Die Rothschilds« (1962; dt. 1962), das auch als Vorlage für ein Broadway-Musical diente, sowie seine Romane »Ein letzter Walzer« (1979; dt. 1981 bzw. 1997) und »Ewigkeitsgasse« (1984; dt. 1996).



Als Gast der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1987 und 2004 dreimal auf.

Am 27.10.1987 las Frederic Morton im Hotel Hilton International im Zuge einer Veranstaltung der Literaturgesellschaft aus seinem Roman »Ewigkeitsgasse«. Am Beginn der Aufnahme ist er im Gespräch mit Wolfgang Kraus zu hören.


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23.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #6



Marcel Reich-Ranicki: »Die deutschen Schriftsteller und die deutsche Wirklichkeit«

Österreichische Gesellschaft für Literatur, 24. Oktober 1966

https://www.mediathek.at/atom/017829B6-3DC-0089C-00000BEC-01772EE2 



Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) war Autor, Publizist und einer der angesehensten und einflussreichsten Literaturkritiker der Nachkriegszeit.
 Ende der achtziger Jahre entwickelte er zusammen mit dem ZDF ›Das Literarische Quartett‹. In dieser Sendung etablierte er gemeinsam mit Helmuth Karasek und Sigrid Löffler, die nach einem Zerwürfnis durch Iris Radisch ersetzt wurde, Literaturkritik in der breiten Öffentlichkeit.

Vor allem seine Verrisse waren unter AutorInnen gefürchtet und brachten ihn u.a. in Konflikt mit Martin Walser und Peter Handke. Ersterer verarbeitete das angespannte Verhältnis zu Reich-Ranicki schließlich 2002 im Roman »Tod eines Kritikers«: https://www.derstandard.at/story/973130/noch-ein-fegefeuer-der-eitelkeiten



In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1964 und 1983 achtmal auf.

Am 24. Oktober 1966 sprach er über Hauptthemen und AutorInnen der Nachkriegszeit. Nachdem das geplante Round-Table-Gespräch zum Thema ›Literatur als Tradition und Revolution‹ (24. bis 26. Oktober 1966) abgesagt wurde, hielt er nicht nur diesen Vortrag, sondern äußerte sich auch kritisch zu den möglichen Gründen der Absage:https://www.zeit.de/1966/42/wiener-kongress-1966-abgesagt/komplettansicht  

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24.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE
#7

Friederike Mayröcker liest u.a. aus »Minimonsters Traumlexikon« (Rowohlt).
Ernst Jandl liest u.a. aus »Sprechblasen« (Luchterhand).
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 17. Jänner 1969
https://www.mediathek.at/atom/14BBD339-3A3-0008F-00000588-14BB2939

Neben Passagen aus den genannten, eben erschienenen Büchern lasen beide unveröffentlichte Texte, darunter u.a. Jandls berühmtes, erst 1970 publiziertes Gedicht »Ottos Mops« (bei ca. 36:20).

Ernst Jandl (1925 – 2000) trat zwischen 1966 und 1992 vierzehn Mal in der Literaturgesellschaft auf, Friederike Mayröcker (geb. 1924) seit 1966 bisher 29 Mal, zuletzt im Jänner 2019.

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25.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #8

Erich Fried liest u.a. Gedichte aus »Die Freiheit den Mund aufzumachen«.
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 1. März 1972
https://www.mediathek.at/atom/01C6F416-0E3-00161-000002F0-01C63AD3

Erich Fried (1921-1988), der nächstes Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, gilt als einer der wichtigsten österreichischen AutorInnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Lyriker, Prosaautor und Übersetzer tätig, veröffentlichte er bereits im Alter von dreiundzwanzig Jahren seinen ersten Gedichtband »Deutschland«. Nachdem er 1938 ins englische Exil fliehen musste, kehrte er erstmals 1962 infolge einer Einladung von Wolfgang Kraus, dem damaligen Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, nach Österreich zurück.

Insgesamt trat er in der Literaturgesellschaft zwischen 1962 und 1987 zehn Mal auf.
Am 20. Oktober 1972 las Erich Fried u.a. Gedichte aus seinem zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Gedichtband »Die Freiheit den Mund aufzumachen«.

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26.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #9

H. C. Artmann: »Das im Walde verlorene Totem«
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 18. November 1970
https://www.mediathek.at/atom/017828F2-2F4-0062A-00000BEC-01772EE2

H. C. Artmann (1921-2000) war Übersetzer, Schriftsteller und schillernder Lyriker. 
Ohne Brotberuf, dafür mit großem Charisma ausgestattet, mischte Artmann alle möglichen Gattungen. Als Mitglied der ›Wiener Gruppe‹ beschäftigte er sich gemeinsam mit Oswald Wiener, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm mit Lautpoesie und visueller Lyrik. Sein Durchbruch gelang dem Dandy mit dem Gedichtband »med ana schwoazzn dintn«, in dem er sich der finsteren Seite der Wiener Gemütlichkeit näherte.

In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1964 und 1993 elfmal auf.
Am 18. November 1970 las er, neben anderen Texten, aus seinem Buch »Das im Walde verlorene Totem«.

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27.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #10

Elfriede Gerstl liest aus »Spielräume« (edition neue texte) und »Berechtigte Fragen« (Edition Literaturproduzenten, Jugend & Volk).
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 26. Februar 1974
https://www.mediathek.at/atom/01782B2E-2E4-00D34-00000BEC-01772EE2

Elfriede Gerstl (1932 – 2009), die die NS-Zeit als jüdisches Kind in verschiedenen Verstecken in Wien überlebte, veröffentlichte ab Mitte der 1950er Jahre Gedichte, Kurzprosa, Essays und Hörspiele. Sie war die einzige Frau im Kreis der ›Wiener Gruppe‹, lebte in den 1960er Jahren in Berlin und ab 1972 wieder in Wien. Elfriede Jelinek schreibt über sie:
»Ich verlange, dass die Werke Elfriede Gerstls die nächsten hundert Jahre (und noch viel länger) gelesen werden. Das ist eine Stimme in der österreichischen Literatur, die nie verstummen darf«. 

Ihre gesammelten Werke liegen seit 2017 in einer von Christa Gürtler, Helga Mitterbauer und Martin Wedl vorbildlich edierten fünfbändigen Ausgabe im Literaturverlag Droschl vor: https://www.droschl.com/autor/elfriede-gerstl/ 

In Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat sie zwischen 1968 und 2006 achtmal auf.
Am 26. Februar 1974 las sie u.a. ihr Gedicht »Schritte« (entstanden 1967).

»Kein Fortschritt, wenn ich mich gehen lasse
kein Rückschritt, wenn ich mich liegen lasse
auf blaue Nebel fehlt mir der Appetit
ferne Ziele liegen mir fern
ich kokettiere nicht mit der Wahrheit
ich bin nicht klein genug für den Größenwahn.
 
Ich übe mich im Spazierengehen in den vernünftigen Grenzen
mal umsehen
mal Brillen wechseln
meine Schritte bilden ein Muster
mit der Zeit gehe ich genauer.«

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30.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #11


Wolfgang Kudrnofsky liest aus seinem satirischen Roman »Bubis Hochzeit oder die Unreifen« (einführende Worte: Hans Weigel)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 7. April 1967
https://www.mediathek.at/atom/01782962-3A3-0078A-00000BEC-01772EE2

Wolfgang Kudrnofsky (1927-2010) war Schriftsteller, Fotograf, Journalist sowie Film- und Hörspielautor.
Bereits in den 1950er Jahren veröffentlichte er erste Prosa- und Theaterschriften in verschiedenen Tageszeitungen, auf die in den nächsten Jahren zahlreiche Werke wie u.a. »Bubis Hochzeit oder die Unreifen«, »Fall-Out« und »Vom Dritten Reich zum Dritten Mann« folgten.

Als Mitglied der Künstlervereinigung „Hundsgruppe“ sowie als Mitbegründer des ›Radio Rot-Weiß-Rot‹ baute er einen großen Bekanntenkreis auf, zu dem u.a. Arnulf Rainer, Luise Martini, Hans Weigel und Helmut Qualtinger zählten. Seine langjährige Freundschaft mit Qualtinger führte dazu, dass dieser einige seiner Texte vertonte, so u.a. auch 1972 Kudrnofskys bekannte Porno-Parodie »Fifi Mutzenbacher«, die er im Jahr zuvor unter dem Pseudonym Wolfgang Bertrand veröffentlicht hatte.

Zwischen 1967 und 2000 trat Wolfgang Kudrnofsky dreimal in der Literaturgesellschaft auf.
Am 7. April 1967 stellte er seinen satirischen Roman »Bubis Hochzeit oder die Unreifen« vor und sprach dabei u.a. über die Schwierigkeiten, einen Verlag für die Veröffentlichung des Romans zu finden. In der Aufnahme sind außerdem Ausschnitte des durch Helmut Qualtinger auf Schallplatte eingelesenen Romans zu hören.
https://www.mediathek.at/atom/01782962-3A3-0078A-00000BEC-01772EE2/marker/00_23_29

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31.03.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #12

Michael Scharang: »Der Lebemann«
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 18. Oktober 1979
https://www.mediathek.at/atom/01782A9C-150-00B60-00000BEC-01772EE2

Michael Scharang (geb. 1941) ist Schriftsteller, Essayist, Drehbuch- und Hörspielautor. 
Nachdem der Sohn einer Arbeiterfamilie mit einer Arbeit über Robert Musils Dramen promovierte, schob er die bloße Theorie beiseite und engagierte sich auch in der Praxis auf literarischer, aber auch gesellschaftspolitischer Ebene. So war er nicht nur Gründungsmitglied der ›Grazer Autorinnen Autorenversammlung‹ und Mitglied des ›Forum Stadtpark‹, sondern auch bis 1978 KPÖ-Mitglied.

Seine früheren Texte, wie etwa sein Debut »Verfahren eines Verfahrens« (1969) oder der Arbeiterroman »Charly Traktor« (1973), sind ganz klar einer marxistisch-materialistischen Ästhetik verschrieben. In ihnen sollte die Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf den Menschen nicht nur abgebildet, sondern auch analysiert werden. Auch wenn sich Scharangs formale Parameter verschoben haben, so ist doch sein Blick weiterhin auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen gerichtet.

Es verwundert daher nicht, dass er die Annahme des ›Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien‹ 2016 mit folgender Begründung ablehnte: »Von Kindheit an habe ich als ungerecht empfunden, dass körperliche Arbeit weniger geschätzt wird als geistige. Für mich ist eine gute Straßenbeleuchtung ebenso wertvoll wie ein guter literarischer Text.« https://www.diepresse.com/4946729/autor-michael-scharang-lehnt-ehrung-des-landes-wien-ab

In der Literaturgesellschaft trat er seit 1967 bisher zehnmal auf.
Am 18. Oktober 1979 sprach er mit Wolfgang Kraus über das Schreiben von Drehbüchern und seinen neuen Roman »Der Lebemann«, aus dem er auch las.

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01.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #13

Elias Canetti liest sein Drama »Hochzeit«
Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses, 12. März 1969

Vorgespräch mit Reinhard Urbach: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/063DE627-103-0013E-00000488-063D3F52/vol/23707/pool/BWEB/
Erster Teil der Lesung: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/0140A326-329-0019F-000003F8-013FCFE2/pool/BWEB/
Zweiter Teil der Lesung: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/139DFF85-3C6-001A3-00000904-139D13B9/pool/BWEB/

Elias Canetti (1905 – 1994), der 1981 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist vor allem für seinen Roman »Die Blendung« (1936), seine dreibändige Autobiografie (»Die gerettete Zunge«, 1977; »Die Fackel im Ohr«, 1980; »Das Augenspiel«, 1985) und sein philosophisches Werk »Masse und Macht« (1960), an dem er jahrzehntelang schrieb, berühmt. Da es unmöglich ist, auf diese ebenso beeindruckende wie komplexe Persönlichkeit in ein paar Sätzen einzugehen, sei auf ein großartiges, ausführliches Interview verwiesen, das André Müller im Dezember 1971 mit Canetti geführt hat: http://elfriedejelinek.com/andremuller/elias%20canetti.html

»Hochzeit«, Canettis erstes Theaterstück, ist 1931 – 1932 entstanden, wurde erst 1965 in Braunschweig uraufgeführt und löste einen Theaterskandal aus. Er selbst sagte zu seinem apokalyptischen Drama: "Die Sprache der Menschen in diesem Stück ist so, dass sie Verwirrung jeder Art ausdrückt, dass eine Figur nicht wirklich versteht, was die andere meint, jede nur sich selbst ausdrückt ... Es ist so, wie wenn Menschen in fremden Sprachen zueinander sprechen würden – ohne sie zu kennen; nur glauben sie, dass sie die Sprache kennen, wodurch eine neue Dimension des Nichtverstehens entsteht.“

Canetti als Leser seiner Theaterstücke ist ein Erlebnis: In einem heute kaum mehr zu findenden wienerischen Deutsch der Zwischenkriegszeit versucht er, vom jahrelangen Besuch von Karl Kraus' Fackel-Lesungen geschult, in Tonfall und Stimmlage seine Figuren lesend zu „spielen", zeitweise an einen Stimmenimitator erinnernd.

In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1963 und 1981 zwölfmal auf.
Am 12. März 1981 trug er im Wiener Konzerthaus in einer langen, mehr als zweistündigen Lesung einen Großteil des Stücks vor. Davor gab er in einem kurzen Gespräch mit Reinhard Urbach, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband, Auskunft über sein Drama.

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02.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #14

Christine Busta liest aus ihrem Gedichtband »Wenn du das Wappen der Liebe malst« (einleitende Worte: Wolfgang Kraus)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 11. Februar 1982
https://www.mediathek.at/atom/0178324A-27C-01A48-00000BEC-01772EE2

Christine Busta (1915-1987) war Lyrikerin und Kinderbuchautorin der österreichischen Nachkriegszeit.
Sie wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf und musste diese bereits in jungen Jahren finanziell unterstützen. Das begonnene Studium der Germanistik und Anglistik brach sie aufgrund gesundheitlicher Probleme und erneuter Geldnot ab, woraufhin sie sich dazu entschied, als Hilfslehrerin zu arbeiten. Ihr Mann, der bereits wenige Jahre nach der Eheschließung in den Kriegsdienst eingezogen wurde, kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück. Später arbeitete sie als Dolmetscherin, bis sie schließlich als Bibliothekarin der Büchereien Wien ihren beruflichen Weg einschlug.

Durch Gerhard Fritsch gefördert, publizierte sie ab Mitte der 1940er Jahre Gedichte in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, wie beispielsweise der Wochenzeitung ›Die Furche‹. 1950 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband »Jahr um Jahr«, dem in den nächsten Jahren zahlreiche weitere Gedichtbände wie u.a. »Der Regenbaum« und »Unterwegs zu älteren Feuern« sowie ihre beiden Kinderbücher »Die Sternenmühle« und »Die Zauberin Frau Zappelzeh« folgten. Sie erhielt für ihre Texte etliche Literaturpreise wie u.a. den Österreichischen Staatspreis für Lyrik (1969) sowie den Anton-Wildgans-Preis (1975).

Von vielen aufgrund ihrer Darstellung christlicher Bilder lange Zeit als katholische Dichterin verstanden, nennt sie selbst als Grundthema ihrer Lyrik „die Verwandlung der Furcht, des Schreckens und der Schuld in Freude, Liebe und Erlösung.“ https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/christine-busta/

Umstritten bleiben ihre Sympathie und Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus, die nach Aufbereitung ihres Nachlasses öffentlich geworden sind. Ob ihr allgegenwärtiges Thema der Schuld ein Eingeständnis dieser Vergangenheit darstellt, bleibt offen.
Der Hauptnachlass Christine Bustas befindet sich im Innsbrucker Brenner-Archiv. Weitere Informationen zu ihrer Person sowie zu ihrem Nachlass finden Sie hier: https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/projekte/busta/

Zwischen 1965 und 1984 trat Christine Busta sechsmal in der Literaturgesellschaft auf.
Am 11. Februar 1982 las sie Gedichte aus ihrem im Jahr davor im Otto Müller Verlag erschienenen Gedichtband »Wenn du das Wappen der Liebe malst«.

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03.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #15

Eduard Goldstücker: »Schriftsteller und Gesellschaft. Gestern, heute, morgen«
ÖGfL-Veranstaltung im Auditorium Maximum der Universität Wien, 18. Juni 1968
https://www.mediathek.at/atom/01782AB6-3A5-00BB2-00000BEC-01772EE2

Eduard Goldstücker (1913-2000) war Diplomat, Publizist und einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 
Der DDR-Funktionär Alfred Kurella hatte 1963 als Erster vor Franz Kafka gewarnt: die bei Kafka häufig verhandelte ›Entfremdung‹ sei in sozialistischen Gesellschaften nicht von Interesse, da Formen der Entfremdung durch Arbeit im Marxismus bereits überwunden seien. Damit stellte er sich gegen die Ergebnisse der am 27. und 28. Mai 1963 in Liblice (ČSSR) stattgefundenen ›Kafka-Konferenz‹.
Die Konferenz auf dem Schloss Liblice schlug die ersten Funken, die zum ›Prager Frühling‹ führen sollten. Hier hatten GermanistInnen aus Ost- und Westeuropa über das Werk Kafkas und marxistische Interpretationsmöglichkeiten seiner Texte diskutiert. Unter den Teilnehmern – wie etwa Ernst Fischer und Roger Garaudy – war es vor allem ein Mann, der sich für die Neuentdeckung Franz Kafkas’ einsetzte und die Veranstaltung initiiert hatte: Eduard Goldstücker.
https://www.zeit.de/1973/35/kampf-um-kafka/komplettansicht

Als Jizchak Jakub Schalom be Jozef in der heutigen Slowakei geboren, in Košice aufgewachsen, ging er 1931 zum Studium nach Prag. Nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen 1939 in die Tschechoslowakei floh Goldstücker mit seiner Frau Marta über Polen nach England. Dort promovierte er, weiterhin überzeugter Marxist, über ›Scherz, Satire und Ironie als künstlerisches Mittel des Jungen Deutschland‹ und trat nach dem Krieg in den diplomatischen Dienst der Tschechoslowakei ein.
 
Er war 1944 Kulturattaché an der Botschaft in Paris, bis 1951 Botschafter in Israel und Ende desselben Jahres im Prager Gefängnis – die Todesstrafe drohte. Nach 18 Monaten Isolationshaft wegen angeblicher Spionage, Hochverrats und staatsfeindlicher Verschwörung wurde er zu lebenslanger Haft und Zwangsarbeit in den Uranminen von Jachymov (CZE) verurteilt.
In seiner 1989 erschienen Autobiographie »Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers« erinnert sich Goldstücker an jene Zeit:

»Stellen Sie sich einen Menschen vor, der angeklagt wird wegen Verbrechen, die das Todesurteil vorgeschrieben haben im Gesetz, ohne je etwas Derartiges getan zu haben. Ohne einen illoyalen Gedanken je gehabt zu haben. [...] Sie werden so lange bearbeitet, dass sie entweder daran zugrunde gehen oder sich beugen dem, was man ihnen aufzwingt.«

1955 wurde er freigelassen, rehabilitiert und 1966 gar Prorektor der Prager Karls-Universität.
Nachdem 1968 sowjetische Panzer nach Prag rollten und die Reformproteste gewaltsam niedergeschlagen wurden, floh Goldstücker erneut nach England. Erst die ›Samtene Revolution‹ machte es ihm möglich, nach Prag zurückzukehren.

Sowohl in seiner Forschung als auch in seinen Texten und Vorträgen beschäftigte er sich hauptsächlich mit Kafka.
In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1964 und 1993 elfmal auf. Am 18. Juni 1968 hielt er im Auditorium Maximum der Universität Wien seinen Vortrag »Schriftsteller und Gesellschaft. Gestern, heute, morgen«.

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06.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #16

Peter Henisch: »Die kleine Figur meines Vaters« (einführendes Gespräch: Wolfgang Kraus)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 14. Oktober 1975
https://www.mediathek.at/atom/0962019E-159-0005A-00000BE8-09617253

Peter Henisch (geb. 1943) zählt seit vielen Jahren zu den wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane (darunter »Pepi Prohaska Prophet«, 1985; »Morrisons Versteck«, 1991; »Schwarzer Peter«, 2001; »Großes Finale für Novak«, 2011; »Suchbild mit Katze«, 2016, und zuletzt »Siebeneinhalb Leben«, 2018), mehrere Gedichtbände (z.B. »Hamlet, Hiob, Heine«, 1989), Novellen, Erzählungen und Kurzprosa, Essays, Theaterstücke, Hörspiele und Filmdrehbücher.
Seit den 1970er Jahren ist er zudem als Musiker aktiv, sowohl solo als auch in verschiedenen Formationen.
Gemeinsam mit Helmut Zenker gründete er 1969 die bedeutende, bis heute bestehende Literaturzeitschrift ›Wespennest‹.

»Die kleine Figur meines Vaters«, Henischs 1975 erschienener erster Roman (in der bei S. Fischer erschienenen Erstausgabe noch als Erzählung bezeichnet), ist sein bekanntestes Buch. Es zählt einerseits zu den wichtigsten Büchern des ›Neuen Realismus‹ der 1970er Jahre, andererseits, neben Romanen wie Handkes ”Wunschloses Unglück«, zu den bedeutenden Beispielen autobiografisch fundierter literarischer Nachforschungen über die eigenen Eltern.
Im Zentrum des Buchs steht die Auseinandersetzung des schreibenden Sohns mit dem Leben seines Vaters, des bekannten Fotografen Walter Henisch sen., der während der NS-Zeit zum von den Nationalisten hofierten Kriegsberichterstatter aufgestiegen war – trotz seiner jüdischen Herkunft.

In Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat Peter Henisch seit 1971 bisher 23 Mal auf. Am 14. Oktober 1975 las er im Palais Palffy aus seinem eben erschienenen Buch »Die kleine Figur meines Vaters«.

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07.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #17

Peter von Tramin liest aus »Die Tür im Fenster« (einleitendes Gespräch: Herbert Zand)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 28. September 1967
https://www.mediathek.at/atom/01782917-273-006A4-00000BEC-01772EE2

Peter von Tramin (1932-1981), eigentlich Peter Richard Oswald Tschugguel, gilt als ein vergessener österreichischer Autor der Nachkriegszeit.

Er verfasste Erzählungen und Romane, wobei hier vor allem sein 1963 veröffentlichter Roman »Die Herren Söhne« stets in den Vordergrund gerückt wird. Er erhielt dafür den österreichischen Staatspreis für Literatur und wurde als damaliges jüngstes Mitglied in den österreichischen PEN-Club aufgenommen. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass dieses Werk im Jahr 2011 im Wiener Metroverlag neu aufgelegt wurde.
Dennoch sollte nicht auf seine anderen Bücher »Die Tür im Fenster« (1967) und »Taschen voller Geld und andere Erzählungen« (1970) sowie auf seine Erzählungen »Divertimento«, »Der Kanalrat« und »Das Scheingrab auf Moder« vergessen werden.
In der Literaturgeschichtsschreibung wird Peter von Tramin stets als Schüler Heimito von Doderers genannt. Da er jedoch weder Doderers Bekanntheit für seine eigenen Schriften nutzen, noch die eigens auferlegten Regeln für sein Schreiben einhalten konnte, ist diese Annahme mit Vorsicht zu betrachten.
In seinen Texten übte Peter von Tramin Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der 1950er Jahre, v.a. an der herrschenden Verschwiegenheit über die Geschehnisse im Krieg und der Mitschuld, die durch Nicht-Handeln entsteht.

Zwischen 1963 und 1985 trat er neunmal im Rahmen von Veranstaltungen der Literaturgesellschaft auf.
Am 28. September 1967 las Peter von Tramin aus seinem Roman »Die Tür im Fenster«. Der Schriftsteller und Übersetzer Herbert Zand, damaliger Mitarbeiter der Gesellschaft für Literatur, sprach zu Beginn der Lesung mit dem Autor über seinen Roman.

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08.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #18

Jakov Lind: »Balladen - Gedichte - Bilder« (unveröffentlicht)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 8. April 1976
https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/01782C12-1AA-00FE6-00000BEC-01772EE2/pool/BWEB/

Jakov Lind (1927 - 2007), als Sohn ostjüdischer Eltern in Wien geboren, konnte 1938 durch einen Kindertransport in die Niederlande flüchten. Nach der Besetzung Hollands gelang es ihm abermals, zu überleben; der Sechzehnjährige ging mit gefälschten Papieren nach Deutschland und arbeitete dort erst als Schiffsjunge, später als Kurier für das Reichsluftfahrtministerium. Nach dem Krieg lebte er anfänglich in Palästina und kehrte kurzzeitig nach Wien zurück, bevor er sich endgültig in England niederließ.
Ab Beginn der 60er Jahre publizierte Lind Erzählungen, Romane und mehrere Autobiographien, teils in deutscher, teils in englischer Sprache. Aufsehen im deutschsprachigen Raum erregte er bereits mit seinem Erstlingswerk, dem Erzählband »Eine Seele aus Holz« (1962), in welchem die realistische Darstellung von Krieg und Shoah mit surrealen, grotesken Elementen verbunden wird.

Insgesamt war Jakov Lind im Zeitraum von 1962 bis 1983 viermal in der Literaturgesellschaft zu Gast. Heute vor 44 Jahren, am 8. April 1976, las er aus seinem bislang nicht veröffentlichten lyrischen Werk. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität und die Frage nach der Möglichkeit des gemeinsamen Weiterlebens von Opfer- und Tätergesellschaft werden in den vorgetragenen Gedichten und Balladen ebenso angesprochen wie das schwierige Verhältnis zur eigenen deutschen Muttersprache. So heißt es etwa in »Deutsche Worte«:

»Von drüben wo ich wohne gewogen
wirkt alles, was ich auf Deutsch schreibe
wie eine Kathedrale, wie ein Ritterschloss.
Etwas Barockfabelhaftes sind diese deutschen Worte.
Und hören sich wie teils heiter, teils wolkig an.
Alles klingt komisch von drüben gehört
wenn ich es mit deutschen Worten sage.
Aber deshalb nicht weniger ernst
sondern schwer und gewichtig.«

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09.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #19

Milo Dor: »Die weiße Stadt«
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 25. September 1969
https://www.mediathek.at/atom/01782924-2F3-006D0-00000BEC-01772EE2

Milo Dor (1923-2005) war Schriftsteller und Übersetzer. 

Als Zwangsarbeiter nach Wien gekommen, bleibt er nach Kriegsende in dieser Stadt. Er wird Student der Theaterwissenschaften und Romanistik. Mit Charme, aber ohne Geld, engagiert er sich im Kulturbetrieb. Er veröffentlicht Artikel in Zeitschriften wie etwa ›Akademische Rundschau‹, ›Strom‹ oder ›Forvm‹ und wird Mitarbeiter der Literaturzeitschrift ›Plan‹. Dann das Jahr 1947. Der erste Erzählband »Unterwegs« erscheint im Erwin Müller Verlag. Der Student Milutin Doroslovac ist nun der Schriftsteller und Übersetzer Milo Dor geworden.

Dass sein Leben diese Wendung nehmen würde, war nicht immer so klar. In Budapest als Sohn eines serbischen Landarztes geboren, wächst Doroslovac ab 1933 in Belgrad auf. In seiner Jugend zieht es ihn zur Literatur und Politik. So schließt er sich 1940 dem ›Ortskomitee des Bundes der kommunistischen Jugend Jugoslawiens‹ an und versucht sich als Lyriker auf Serbokroatisch.
Zwei Jahre später wirft ihn die serbische Spezialpolizei, die die nationalsozialistischen Besatzer unterstützt, ins Gefängnis. Er wird gefoltert und 1943 als Zwangsarbeiter nach Wien geschickt. Ein Jahr danach nimmt ihn hier die Gestapo fest und drangsaliert ihn. Er bleibt.

Und ebendieser Mann steht nun 1951 vor der ›Gruppe 47‹. Hans Werner Richter hatte ihn eingeladen aus seinem Roman »Tote auf Urlaub« zu lesen. Der Auftritt ist ein Erfolg und Dor nun Teil der Gruppe. Im darauffolgenden Jahr erscheint der autobiographische Roman in der Deutschen Verlagsanstalt. Der Text handelt von einem Jungkommunisten, den seine Parteigenossen ausschließen und der sich seinen Weg durch Konzentrationslager und Gefängnisse schlägt. Es ist Dors literarischer Durchbruch und der erste Teil der Romantrilogie »Die Raikow Saga«, dem 1959 »Nichts als Erinnerung« und 1969 »Die weiße Stadt« folgen. Die Gesamtausgabe erschien 1979 bei Langen-Müller.

Dor war Vielschreiber. Gemeinsam mit Reinhard Federmann schreibt er ab den 1950er Jahren mehrere Kriminalromane, daneben verfasst er eine Reihe von Erzählungen, Übersetzungen, Hör- und Fernsehspielen. Er führt seine Leidenschaften zusammen und bringt sich in die Kulturpolitik ein: Dor wird Vizepräsident des österreichischen PEN-Clubs und Präsident der IG Autorinnen Autoren.

Milo Dor war für seinen Geist und Witz bekannt. In seiner Grabrede auf Dor erinnert sich Michael Scharang an seine letzte Begegnung mit dem Freund:

»Im Frühsommer dieses Jahres verabredeten Milo Dor und ich uns zum Mittagessen. Am Telefon wirkten wir beide arbeitsbesessen, so bezeichnete Dor das Thema meines Romans als sein altes Lieblingsthema, dem er sich bald wieder nähern werde, ich sagte über seinen Plan für ein neues Buch, einen ähnlichen Plan trüge ich mit mir herum, fühlte mich aber für eine Realisierung noch nicht reif. Außerdem versicherten wir einander, nach dem Essen sogleich nach Haus zu gehen und weiterzuarbeiten, denn wir wußten aus Erfahrung, daß ein Mittagessen, gab man absichtlich nicht acht, spätabends enden kann. Der Tag kam, wir aßen und redeten und zahlten und gingen, jedenfalls bis vor die Tür des Gasthauses. Milo Dor blieb stehen und beobachtete jemanden auf der anderen Straßenseite. Ich folgte seinem Blick, sah aber niemanden. Er klärte mich auf: Dort geht mein anderes Ich. Es geht nach Haus, um zu arbeiten. Wir aber gehen spazieren. Schau, es scheint die Sonne.«
(›Literatur und Kritik‹, Salzburg, März 2006)

In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1962 und 2004 19 Mal auf.
Am 25. September 1969 las er aus seinem Roman »Die weiße Stadt«.

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10.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #20

Gustav Ernst: »Einsame Klasse« (Autoren-Edition im Athenäum-Verlag),
Hans Trummer: »Versuch, sich am Eis zu wärmen« (Hoffmann und Campe)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 29. Jänner 1980
https://www.mediathek.at/atom/01782B63-373-00DE0-00000BEC-01772EE2

Gustav Ernst (geb. 1944 in Wien), schreibt seit 1970 vor allem Prosa, Theaterstücke und Filmdrehbücher.
Bereits ab 1969 war er Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift ›Wespennest‹, Anfang der siebziger Jahre Mitglied der literarischen Gruppe ›Hundsblume‹, seit 1996 ist er gemeinsam mit Karin Fleischanderl Herausgeber der Zeitschrift ›kolik‹, seit 2005, ebenfalls zusammen mit Karin Fleischanderl, Gründer und Leiter der ›Leondinger Akademie für Literatur‹.

Er war einer der zentralen Vertreter des ›Neuen Realismus‹ der 1970er Jahre, zu dem er 1989 mit seinem großen Essay »Leben und Literatur« nachträglich ein umfassendes theoretisches Fundament formulierte.
Als Drehbuchautor hat er einige ganz wichtige Filme mitverantwortet – Franz Novotnys »Exit. Nur keine Panik« ist vielleicht der berühmteste –, als Autor von Theaterstücken wurde und wird er oft gespielt und oft übersetzt  – u.a. in den Niederlanden, wo er fast Kultstatus genießt.

»Einsame Klasse«, sein 1979 erschienener erster Roman, nimmt viele zentrale Themen seines Schreibens vorweg: den genauen Blick auf soziale Wirklichkeiten, die Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit, klar formulierte Gesellschaftskritik in einer, wie es in Wikipedia fast verschämt heißt, »bisweilen höchst drastischen Sprache«. Gustav Ernst ist ein Meister der Miniatur, des Dialogs, der Alltagswahrnehmung und des Aufzeigens politischer und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.

In Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat er seit 1973 13 Mal auf, dazu kommen zahlreiche Moderationen in unseren Reihen ›kolikslam‹ und ›kolik liest‹.

Hans Trummer (1947 – 2007) war Autor mehrerer Romane, Novellen, Hörspiele und Filmdrehbücher. Der gebürtige Steirer lebte ab 1990 über zehn Jahre lang in Westafrika, wo er zahlreiche Dokumentationen für verschiedene Fernsehanstalten drehte.
Seine Romane erschienen in den 1980er Jahren im renommierten Hamburger Hoffmann und Campe-Verlag.

In einem Nachruf schrieb Gerhard Jaschke:

»Hans Trummer verstand es geradezu meisterlich, aus dem akribisch zusammengetragenem Material – wie bereits in seinen Reportagen, Features, Hör- und Fernsehspielen (»Proletenliebe«) – Wortfolgen herauszufiltern, die andere Autoren in seitenlangen Elaboraten gewiß nie zustandebringen.
Ein Satz wie »Ich wurde jeden Morgen mit Sicherheitsnadeln für den Existenzkampf präpariert.« liefert sogleich ein nicht so leicht zu vergessendes Bild einer ziemlichen Erdenschwere, Verhaftetsein ins Hier und Jetzt.
Nichtsdestotrotz ist da eine unbeschreibliche Leichtigkeit, Zartheit, Zärtlichkeit; Traumnotate geraten zu handfesten realen Gegenwelten, begehbaren Wegen in eine scheinbar lebbare Zukunft – und Düfte, wie der des frischgebackenen Brotes, nehmen viel Platz ein.

In Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat er zweimal auf, erstmals 1972, und 1980, als er aus einem ersten bei ›Hoffman und Campe‹ erschienen Roman »Versuch, sich am Eis zu wärmen« las.

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14.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #21


Gerhard Amanshauser:
»Aus dem Leben der Quaden«; »Der Deserteur«, (Residenz Verlag)
Hermann Jandl: »Leute, Leute« (S. Fischer Verlag)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 27. November 1970
https://www.mediathek.at/atom/017828EE-2BC-0061D-00000BEC-01772EE2

Gerhard Amanshauser (1928-2006) war Schriftsteller in der Generation von H.C. Artmann und Thomas Bernhard, mit denen ihn auch eine Freundschaft verband.

Obwohl er bereits ab 1955 als Schriftsteller tätig war und literarische Kontakte pflegte, wurde er erst in den 1970er Jahren mit seinem Roman »Schloß mit späten Gästen« und später u.a. mit seinen Werken »Terrassenbuch« und »Mansardenbuch« in der breiten Öffentlichkeit bekannt.
Nachdem er mit nur siebzehn Jahren in den Krieg geschickt worden war, betrachtete er politische Systeme stets kritisch und verurteilte seine Elterngeneration in Bezug auf den Nationalsozialismus. Deutlich wird dies in seiner Autobiografie »Als Barbar im Prater« (2001) erkennbar, »in der er bissig den triumphalen Freiheitsrausch des Jahres 1945 beschrieb.« (Literaturarchiv der Österr. Nationalbibliothek)
Sein literarisches Werk ist durch seine Skepsis und Kritik gegenüber der Gesellschaft geprägt, die er durch satirische und parodistische Mittel zum Ausdruck bringt. Ein häufig angesprochenes Thema in seinen Texten ist neben dem Nationalsozialismus ebenso sein großes Interesse an Asien, insbesondere an China.
Der Autor erhielt zahlreiche Preise, u.a. im Jahr 1994 den Würdigungspreis des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst für Literatur.

Zwischen 1968 und 1993 trat Gerhard Amanshauser viermal in der Literaturgesellschaft auf. Bei seiner Lesung im November 1970 las er aus seiner Satire »Aus dem Leben der Quaden« sowie aus seinem Erzählband »Der Deserteur«, dessen Erzählungen von Menschen handeln, die sich gewissen Situationen entziehen.

Hermann Jandl (1932-2017) war Pflichtschullehrer, zuletzt auch Schuldirektor, und Schriftsteller. Er veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele.

Bereits ab Anfang der 1950er Jahre publizierte Hermann Jandl erste Texte in Literaturzeitschriften und Anthologien. Ab 1969 folgten Buchpublikationen von Theatertexten (u.a. »Geständnisse«), Gedichten (u.a. »Kernwissen«), Erzählungen (u.a. »Die Tür ist offen«) sowie dem Hörspiel »Ein Mensch, oder: Das Leben ist eines der schwersten«.
Während sein literarisches Werk in der Literaturkritik oft mit dem seines Bruders Ernst Jandl verglichen wird, »ist sein Werk stilistisch weder als traditionalistisch noch als radikal avantgardistisch einzuordnen. Mit Sprachwitz und sanftem Humor, mit Wiederholung, Variation und Zuspitzung geht er in einem Minimum an Worten und in klaren Formen auf persönliche und alltägliche wie auch historische und gesellschaftsrelevante Themen ein.« (Literaturarchiv der Österr. Nationalbibliothek)
Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise – zuletzt im Jahr 2000 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.

In der Literaturgesellschaft trat Hermann Jandl insgesamt fünfmal auf. Erstmals, als er im November 1970 seinen im selben Jahr beim S. Fischer Verlag veröffentlichten Lyrikband »Leute Leute« vorstellte.

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15.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #22

Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«
ÖGfL-Veranstaltung im Großen Saal des Palais Palffy in Wien, 18. Mai 1966
https://www.mediathek.at/atom/01785F2A-1E2-0A857-00000BEC-01772EE2

Theodor W. Adorno (1903-1969) war Musiktheoretiker, Komponist, Soziologe und Philosoph. 

Als Theodor Ludwig Wiesengrund in eine wohlhabende Familie geboren, kommt der junge ›Teddie‹ durch seine Mutter Maria Calvelli-Adorno und ihre Schwester Agathe Calvelli-Adorno früh in Berührung mit klassischer Musik. Während seiner Schulzeit nimmt diese Beschäftigung zu und er nimmt Kompositionsunterricht bei Bernhard Sekles. 
Mit 17 Jahren – er hat zwei Klassen übersprungen – schließt er das Abitur als Jahrgangsbester ab. Er wird Student der Philosophie, Musikwissenschaften, Psychologie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. In dieser Zeit schließt er Freundschaften mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. Neben seinen Studien engagiert er sich im Kulturbetrieb: Seit 1922 schreibt er als Musikkritiker in der Zeitschrift ›Neue Blätter für Kunst und Literatur‹ und kurz darauf wird seine erste Komposition uraufgeführt. Das 1921 begonnene Studium schließt er nur drei Jahre später bereits erfolgreich ab. Er promoviert über »Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie«.

Nach seinen Studien zur transzendentalen Erkenntnistheorie führt ihn sein Wissensdrang in die Stadt der Musik: Wien. Hier hat er in den Jahren 1925 und 1926 mehrere längere Aufenthalte und studiert Musiktheorie und Komposition bei Arnold Schönberg und dessen Schüler Alban Berg – daneben nimmt er Klavierunterricht beim Komponisten und Pianisten Eduard Steuermann. Seine Affinität zu Schönbergs Zwölftonmusik findet Eingang in Adornos 1949 erschienenem musikphilosophischen Hauptwerk »Philosophie der neuen Musik«. In Wien besucht er auch Vorlesungen des Schriftstellers und Kulturkritikers Karl Kraus, trifft auf den Literaturwissenschaftler und Philosophen Georg Lukács und schließt Freundschaft mit dem Prager Schriftsteller Hermann Grab.

Zurück in Frankfurt will sich Adorno 1927 mit seiner Arbeit »Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre« bei Hans Cornelius habilitieren. Cornelius sieht mangelnde Originalität in den Ausführungen, äußert Bedenken – Adorno zieht die Habilitationsschrift zurück. Trotz dieses Rückschlags bleibt Adorno produktiv.
Er komponiert und schreibt musikkritische Texte und unternimmt mehrere Reisen nach Berlin, wo er mit KünstlerInnenkreisen in Kontakt kommt. Hier schließt er auch Bekanntschaften mit Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Kurt Weil. Außerdem wird er ab 1929 Redakteur der Wiener Avantgarde-Zeitschrift ›Anbruch. Österreichische Zeitschrift für Musik‹.

Mit Aussicht auf einen Lehrstuhl für Philosophie verfasst Adorno innerhalb eines Jahres eine zweite Habilitation zum dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Dieses Mal ist er erfolgreich: 1931 habilitiert sich Adorno bei dem evangelischen Theologen Paul Tillich mit der Arbeit »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen«. Fortan lehrt er als Privatdozent für Philosophie. Allerdings wird ihm bereits 1933, infolge der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die Lehrbefugnis aus »rassischen« Gründen entzogen.
Er flüchtet ins Exil nach London, dann nach Oxford. Dort arbeitet Adorno als Advanced Student Instructor am Merton Collge. Daneben versucht er sich an einer Ph.D-Schrift über phänomologische Antinomien.
Nach seiner Heirat mit Gretel Karplus emigrieren die beiden nach New York. Dort ist Adorno von 1938-1941 als Mitglied des Instituts für Sozialforschung tätig; von 1944 bis 1949 leitet er als Direktor das ›Research Project on Social Discrimination‹ in Los Angeles.
In dieser Zeit erscheint auch seine, gemeinsam mit Horkheimer verfasste, bekannteste Schrift: »Dialektik der Aufklärung« (1944). In der »Dialektik« – die erst 1969 in Deutschland erscheint – arbeiten sich Adorno und Horkheimer an der Frage ab, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«

Adorno kehrt 1949 zurück nach Deutschland und wird außerplanmäßiger Professor für Sozialphilosophie, später Ordinarius für Soziologie und Philosophie an der Universität Frankfurt. Außerdem leitet er gemeinsam mit Horkheimer das erneut eingerichtete Institut für Sozialforschung. Zusammen mit Herbert Marcuse und Horkheimer wird er zum Hauptvertreter der ›Frankfurter Schule‹ und entwickelt gemeinsam mit ihnen die ›Kritische Theorie‹: Eine Verknüpfung der Gedanken von Hegel, Marx und Freud.
In ihrer Kritik bekämpft die Frankfurter Schule sowohl die bürgerliche Ideologie der westlichen Nachkriegsgesellschaften als auch die revolutionär-gewaltsamen Bestrebungen mancher Studierender der 68er-Bewegung – was den neomarxistischen Denker Adorno auch innerhalb des linken Spektrums in Bedrängnis bringt.

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16.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #23

Peter Handke liest eigene Gedichte sowie aus dem Prosatext »Begrüßung des Aufsichtsrats« (Residenz)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 27.2. und 31.10.1967
https://www.mediathek.at/atom/151B3CA3-28A-00003-00000D9C-151A1537
https://www.mediathek.at/atom/151B3F66-19B-00006-00000D9C-151A1537

Der Versuch, den letztjährigen Literaturnobelpreisträger Peter Handke (geb. 1942) und sein Werk in Gänze vorzustellen sowie auf die hitzige Debatte einzugehen, die seit dem Herbst 2019 um ihn und die Berechtigung dieser Auszeichnung geführt wird, würde nicht nur den Rahmen dieses Beitrags sprengen, sondern müsste, da das Vorhaben dem Anspruch nicht gerecht werden könnte, zwangsläufig misslingen.
Betrachten wir also nur den jungen Handke und springen direkt in das Jahr 1967, in die Anfangszeit seiner Karriere. Peter Handke war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, hatte sich in Graz dem Forum Stadtpark angeschlossen und im Vorjahr mit dem experimentellen Roman »Die Hornissen« (Suhrkamp) auf sich aufmerksam gemacht. Darüber hinaus hatte er mit seinem Auftritt beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton durch den Vorwurf einer an die etablierten LiteratInnen adressierten „Beschreibungsimpotenz“ für Furore gesorgt sowie mit seinem provokativen Theaterstück »Publikumsbeschimpfung« (Suhrkamp) schockiert, welches die Konventionen des traditionellen Theaters in Frage stellt. Handke, der 1967 neben dem Prosaband »Begrüßung des Aufsichtsrats« (Residenz) noch den dekonstruktiven Anti-Detektivroman »Der Hausierer« (Suhrkamp) veröffentlichte, hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon einen Ruf als Popstar, als „Beatle der Literatur“ (Wynfried Kriegleder) und „enfant terrible“ aufgebaut. Dementsprechend schreckte er nicht davor zurück, bei der Preisverleihung seiner ersten Auszeichnung, des Gerhart-Hauptmann-Preises 1967, für eine Welle der Empörung zu sorgen, als er sich in seiner Ansprache wegen des Freispruchs für jenen Polizisten echauffierte, der für den Tod des Studenten Benno Ohnesorg, des bekanntesten Opfers der beginnenden Studentenrevolte, verantwortlich gewesen war.

In eben diesem Jahr 1967 war Peter Handke, der 1972 erneut in der Gesellschaft für Literatur auftreten sollte, zweimal im Palais Palffy zu Gast; von beiden Lesungen existieren jeweils kurze, etwa sechsminütige Mitschnitte, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.
Am 27. Februar las der Schriftsteller neben anderen Texten, deren Vortrag leider nicht aufgezeichnet wurde, seine, wie er selbst zu Beginn angibt, „ersten“ Gedichte: »Was ich nicht bin und was ich bin«, »Gottesbeweis« und »Die unbenutzten Todesursachen«. Während der Autor Teile des Gedichts »Gottesbeweis« später in sein Theaterstück »Kaspar« (Suhrkamp, 1968) übernahm, erschien »Die unbenutzten Todesursachen« in der von Wolfgang Weyrauch herausgegebenen Anthologie »Lyrik aus dieser Zeit: 1967/68. Vierte Folge« (Bechtle, 1967) sowie zwei Jahre später in Handkes Prosa- und Lyrikband »Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt« (Suhrkamp, 1969), einem seiner kommerziell erfolgreichsten Bücher. Ebenfalls in diesem Band publiziert wurde das Gedicht »Was ich nicht bin und was ich bin«, allerdings in veränderter Form und unter dem Titel »Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin«. 
Am 31. Oktober stellte Handke seinen Prosaband »Begrüßung des Aufsichtsrats« vor; der vorhandene Mitschnitt der Lesung umfasst etwa die erste Hälfte des titelspendenden Prosastücks. Andere Teile des Vortrags, bzw. der Auftritt von Andreas Okopenko, der an diesem Abend aus seinem Werk »Die Belege des Michael Cetus« las, sind leider nicht erhalten. Da Letzterer jedoch schon 1966 aus dem zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Kurzroman vorgetragen hatte, sei an dieser Stelle auf die LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #1 verwiesen.

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17.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #24

Manfred Chobot: »Projekte. Illustrierte Prosa« (Maro-Verl.),
Werner Kofler: »Vorgeschichte« (Hörspiel, ORF Burgenland)
(einleitende Worte: Reinhard Urbach)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 17.12.1973
https://www.mediathek.at/atom/01782B6D-038-00E00-00000BEC-01772EE2

Manfred Chobot, geb. 1947, war nach einer erfolgreichen Jugendkarriere als Wettkampfschwimmer als freier Mitarbeiter des ORF tätig und trat zu Beginn der 70er Jahre erstmals als Schriftsteller in Erscheinung. Obwohl er seit nunmehr 50 Jahren in der österreichischen Literaturszene aktiv ist, etwa als Mitglied der ›Grazer Autorinnen Autorenversammlung‹, des Literaturkreises ›Podium‹, der ›IG-Autorinnen Autoren‹ und der europäischen Autorenvereinigung ›Kogge‹, als Redakteur bei verschiedenen Literaturzeitschriften oder von 1991 bis 2004 als Herausgeber der Reihe ›Lyrik aus Österreich‹, galt sein umfangreiches literarisches Werk lange Zeit als „heißer Geheimtip“ (Peter Henisch), welches vonseiten der Forschung erst in den letzten Jahren entdeckt worden ist.
Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass Manfred Chobot ein „Routinier der kleinen Form“ ist (Wolfgang Müller-Funk), dessen bisheriges literarisches Schaffen neben einem einzigen längeren Text, dem Roman »Reise nach Unterkralowitz« (Limbus, 2009), kurze Erzählungen, Gebrauchsprosa, Reportagen, Hörspiele, Satiren, Mundartgedichte, Reiseliteratur, avantgardistische Sprachspiele sowie Experimente mit Sinn und Buchstäblichkeit, mit Schrift und Bild umfasst. „Die österreichischen Buddenbrooks wären kein Projekt für ihn“, so Wolfgang Müller-Funk, „viel eher das, was so ungeheuer simpel klingt und vielleicht das Schwierigste ist: die knappe Sentenz, ein Einfall, ein Satz, der alles erhellt.“ Bemerkenswert ist auch, wie sehr die Texte des vielgereisten Autors im „Spannungsfeld des Lokalen und des Globalen“ (Zdeněk Mareček) oszillieren – verwurzelt einerseits im Wiener Dialekt und im Regionalen, etwa bei der Lyriksammlung »Kumm haam in mei Gossn« (Bibliothek der Provinz, 2000) oder den »Dorfgeschichten« (Bibliothek der Provinz, 1992), folgt Manfred Chobot andererseits in Werken wie »Maui fängt die Sonne. Mythen aus Hawaii« (Deuticke, 2001) oder den zuletzt erschienenen Reiseerzählungen »In 116 Tagen um die Welt« (Löcker, 2019) einem kosmopolitischen Weltkonzept in einer nicht örtlich gebundenen Sprache.

Werner Kofler (1947 – 2011), aufgewachsen in Kärnten, war ab etwa 1968 als freiberuflicher Schriftsteller tätig und verfasste Prosa, Hörbücher und Drehbücher. In seinen Werken – hervorzuheben wären etwa die Erzählung »Guggile: vom Bravsein und vom Schweinigeln« (Wagenbach, 1975), der experimentelle Kriminalroman »Konkurrenz« (Medusa, 1984), die Schimpftirade »Manker. Invention« (Deuticke, 1999), sein einziges Theaterstück »Tanzcafé Treblinka« (2001, im Auftrag des Stadttheaters Klagenfurt) oder die 2005 als Trilogie »Triptychon« neu aufgelegten Prosastücke »Am Schreibtisch« (Rowohlt, 1988), »Hotel Mordschein« (Rowohlt, 1989) und »Der Hirte auf dem Felsen« (Rowohlt, 1991) – übte er Kritik am Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs, an Scheinheiligkeit, Karrierismus, Unehrlichkeit und Geschäftstüchtigkeit im Generellen sowie an den Medien und dem seiner Meinung nach korrupten Literatur- und Kulturbetrieb, von dem er sich weitgehend fernzuhalten versuchte – sofern er nicht gerade durch eine Fehde mit einer anderen Person des öffentlichen Interesses die Aufmerksam auf sich zog.
Nicht ohne Weiteres wurde der als unangepasst, politisch unkorrekt und ausfällig geltende Autor nach dem Tod Thomas Bernhards als „der wortgewaltigste Prosaist Österreichs und als schärfster und untergriffigster Satiriker des Landes“ bezeichnet (Klaus Amann). Die Mittel, derer sich Werner Kofler für seine satirischen Texte bediente, sind die der Montage und des Zitats, wobei authentisches und erfundenes Material so miteinander verwoben werden, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion nicht mehr erkennbar sind: „Das Erfundene erweist sich“, so Amann, „da nicht selten als das Authentische, das Authentische aber als etwas, das nicht besser erfunden werden könnte.“

Werner Kofler trat zwischen 1973 und 1985 fünfmal in der Gesellschaft für Literatur auf; Manfred Chobot war bislang 20 Mal bei verschiedensten Veranstaltungen zu Gast, zuletzt im September 2019.
Die Lesung im Dezember 1973 war für beide der erste Auftritt bei einer ÖGfL-Veranstaltung. Eigentlich waren sie im Rahmen der ›Edition Literaturproduzenten‹ des Verlags für Jugend und Volk eingeladen worden, wo Chobots Erstlingswerk »Neue Autoren I« sowie Koflers »Analog Comics« erschienen waren. Da jedoch, wie Reinhard Urbach einleitend feststellte, die erwarteten VerlagsvertreterInnen mitsamt der am Büchertisch zu verkaufenden Exemplare der Veranstaltung ferngeblieben waren, wurde spontan umdisponiert: Manfred Chobot las aus seinem zweiten Prosaband »Projekte«, während Werner Kofler aus seinem wenige Tage zuvor im ORF ausgestrahlten Hörspiel »Vorgeschichte« vortrug.

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20.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #25

Alois Vogel: »Vorläufige Grabungsergebnisse« (Jugend und Volk)
Anton Fuchs: »Vom Morgen in der Nacht« (Fritz Molden)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 12. Mai 1970
https://www.mediathek.at/atom/017828D1-13F-005BD-00000BEC-01772EE2

Alois Vogel (1922-2005) war Schriftsteller, Herausgeber und Grafiker.

Eine wichtige Persönlichkeit der österreichischen Literaturszene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Alois Vogel. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studiert er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zuerst Malerei an der Akademie der bildenden Künste Wien, um schließlich einen Weg als Schriftsteller einzuschlagen. Anfang der 1950er Jahre publiziert er erste Gedichte in den Zeitschriften »Neue Wege« und »Wort in der Zeit« sowie 1954 und 1956 Erzählungen in Hans Weigels »Stimmen der Gegenwart«, durch die v.a. junge AutorInnen gefördert werden sollten. In den darauffolgenden Jahrzehnten veröffentlicht er Romane (u.a. »Das andere Gesicht« (1959); »Jahr und Tag Pohanka« (1964); »Schlagschatten« (1977)), Lyrikbände (u.a. »Sprechen und Hören« (1971); »Im Zeitstaub« (1990)), Hörspiele und Anthologien. Sein literarisches Werk ist stark von den politischen Ereignissen der Zwischenkriegszeit geprägt und spiegelt politische sowie soziale Verhältnisse in Österreich in den 1920er und 1930er Jahren wider. Als Mitbegründer des Literaturkreises »Podium« sowie Herausgeber der Literaturzeitschriften »Konfigurationen« und »Lyrik aus Österreich« wird seine Bedeutung im österreichischen Literaturbetrieb gefestigt.

In der Literaturgesellschaft trat Alois Vogel zwischen 1964 und 1998 insgesamt achtmal auf. Zum zweiten Mal, als er im Mai 1970 Texte aus seinem Band »Vorläufige Grabungsergebnisse« präsentierte.

Anton Fuchs (1920-1995) war Schriftsteller und Zeitungskritiker.

Nach begonnenen Studien der Medizin sowie Germanistik und Philosophie in Wien, arbeitet Anton Fuchs bei der internationalen Atomenergieorganisation, bis es ihn 1972 als freien Schriftsteller nach Klagenfurt zieht. Obwohl sein literarisches Werk historische Romane – mit seinem Hauptwerk »Der Deserteur« (1987) – Kurzprosa und Lyrik umfasst, bleibt der Autor bis heute weitgehend unbekannt. So schreibt Martin Amanshauser beispielsweise: »[...] [Er] gehört zu den großen Stilisten der Nachkriegsgeneration, doch im Unterschied zu prominenten Autoren seiner Epoche wurde er nur punktuell wahrgenommen. [...] Zudem war er gerne mit dem falschen Text zur falschen Zeit ›am Markt‹.« (https://www.diepresse.com/727564/stiller-autor-grosser-stilist)

Die Veranstaltung am 12. Mai 1970 war Anton Fuchs einzige Lesung in der Literaturgesellschaft. Er las dabei aus seinem zwei Jahre zuvor publizierten Buch »Vom Morgen in der Nacht«.

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21.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #26

Wolfgang Bauer: »Gespenster«
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 17. Mai 1974
Erster Teil: https://www.mediathek.at/atom/01782A0B-163-009A5-00000BEC-01772EE2
Zweiter Teil: https://www.mediathek.at/atom/15268042-128-00002-00000588-1525F2BA

Wolfgang Bauer (1941-2005) war ein Dramatiker, Erzähler und Enfant terrible der österreichischen Literaturszene. 

Am 23. Mai 1978 hält sich ein Mann im Studio der ORF-Diskussionssendung »Club 2« einen Revolver an seine Schläfe. Ein verrückter Fußballfan sei genauso unberechenbar wie ein »wahnsinniger Dichter« erklärt er und zerbricht sogleich die Waffe. Eine Attrappe.
Der Mann ist kein Unbekannter: Es ist der Dramatiker Wolfgang Bauer.

Nach seiner Schulzeit in Graz verschlug es Bauer 1959 zum Studium nach Wien. Während er Theaterwissenschaften, Philosophie, Romanistik und Jus studiert, werden seine beiden Einakter »Der Schweinetransport« (1961) und »Maler und Farbe« (1961) in Graz uraufgeführt. Die Dramen von Albert Camus, Eugène Ionesco und Jean Paul Sartre sind seine Vorbilder. Schließlich etabliert er sich mit seinem absurden Theater als Vertreter der schriftstellerischen Avantgarde im Grazer ›Forum Stadtpark‹.

Nachdem sein Stück »Magic Afternoon« zuvor von vierzig Theaterbühnen abgelehnt wurde, feiert es am 12. September 1968 seine Uraufführung und Bauer seinen internationalen Durchbruch. Die Handlung ist schnell erklärt. Zwei Frauen und zwei Männer sind gelangweilt vom Leben. Auf der Suche nach Aufregung greifen sie zu Schallplatten, darauf folgen Drogen, auf Drogen Sexspiele und auf Sexspiele Gewalt – am Ende ein Totschlag.
Ein Skandal. Das Publikum jubelt. Das erzkonservative Österreich der 1960er bebt und wird aufgerüttelt: »1968 fand in Österreich im Theater statt.« (Marlene Streeruwitz) Im selben Jahr wird »Magic Afternoon« in das Theaterprogramm von Kiepenheuer & Witsch aufgenommen, 1969 erscheint es hier auch als Buch.

Obwohl Bauer 1972 im Interview mit Doris Scherbichler gesteht, ihm sei alles »völlig wurscht«, spricht die Produktivität seiner Frühphase eine andere Sprache: »Change« (1969), »Silvester oder das Massaker im Hotel Sacher« (1971), »Film und Frau« (Alternativtitel: »Shakespeare the Sadist«, 1971) und »Gespenster« (1973). Seine Dramen sind Erfolge, Bauer eine Berühmtheit – auch abseits der Bühne.
Sein Name ist in der Öffentlichkeit verbunden mit Sex, Drogen und wütenden Leserbriefen. Bauer tut das Seinige, um seinen Ruf als Bürgerschreck zu festigen. So präsentiert er sich etwa in dem ironischen Fernsehportrait »Die Welt des Wolfgang Bauer« (1971) als Trinker, der auch mal auf der Straße schläft oder spricht in seinem Text »Wolfi über die Theatergesetze« (1969) von Lessing oder Schiller als »Theaterjuristenpack« und wehrt sich gegen die »Herren des Gesetzes«. Die Frage nach dem »sogenannte[n] dramatische[n] Handwerk«, das die Altvorderen hochhalten, stelle sich nicht für ihn, er verachte sie und entgegnet: »Ja, bin ich denn ein Tischler???!!!«.
Ab Mitte der 1970er werden Bauers Stücke verschlossener, absurder und weniger schockierend. Die Kritik goutiert das nicht. Spätere Stücke, wie etwa »Magnetküsse« (1975), werden verrissen und das Fehlen von »Magic Wolfi« (Gerhard Fuchs) beanstandet.
 
Bauer steht sein Leben lang im Schatten seines Frühwerks, er wird zum »Frühverbrannten« (Marlene Streeruwitz). Am 26. August 2005 stirbt er an den Folgen eines Herzleidens.

In der Literaturgesellschaft trat er zwischen 1967 und 1988 achtmal auf.
Am 17. Mai 1974 las er aus seinem Theaterstück »Gespenster«.

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22.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #27

Ernst Hinterberger liest aus seinem Buch »Wer fragt nach uns - Geschichten von kleinen Leuten, armen Hunden und Außenseitern«,
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 6. Mai 1975
https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/017828C2-026-0058C-00000BEC-01772EE2/pool/BWEB/

Ernst Hinterberger (1931 – 2012) gehört nicht zu den bekanntesten Schriftstellern; einige seiner Werke allerdings zählen zu den populärsten in der österreichischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Als Autor von Fernsehserien für den ORF schuf er legendäre Figuren wie den »Mundl«, die »Gitti Schimek« oder den »Trautmann«.
Zunächst Hilfsarbeiter, arbeitete Hinterberger zuerst in den Büchereien der Wiener Volksbildungshäuser und von 1968 an jahrzehntelang als Expedient in einer Fabrik. Seine Bücher schrieb er daneben, vor allem an den Wochenenden. Der erste Roman »Beweisaufnahme« erschien 1965, es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Fernsehspiele und -filme sowie einige Theaterstücke und Hörspiele.
Hinterbergers Thema war stets das »einfache Leben« der »einfachen Leute« in Wien, deren Sprache und Milieu er aus eigenem Erleben kannte.

Seine Bekanntheit gründete sich vor allem auf den Verfilmungen seiner Texte. Wenn etwa Wolfgang Kraus in der Einleitung zur heutigen ›Lesung zum Nachhören‹ mit Hinterberger darüber spricht, dass im Juni 1975, also einen Monat nach der Lesung in der Literaturgesellschaft, die Verfilmung des ersten Abschnitts von Hinterbergers zweitem, 1966 erschienen Roman »Salz der Erde« im Fernsehen gezeigt würde, dann ist damit der erste Teil der bis heute legendären Serie »Ein echter Wiener geht nicht unter« gemeint, zu deren insgesamt 24 Folgen Hinterberger nicht nur Idee und literarische Vorlage, sondern auch das Drehbuch lieferte.

Ein Grundstein einer weiteren, berühmten ORF-Serie ist in unserer Lesung nachzuhören: Ab ca. 00:15:45 liest Hinterberger eine Erzählung, die so beginnt: »Früher gab es bei uns in Margarethen einen, den wir den Sechser nannten …«.
Aus diesem »Sechser« wurde später, in abgewandelter Form, »der Fünfer«, eine von Gerald Pichowetz verkörperte Figur aus der Serie »Kaisermühlen Blues«, die der ORF von 1992 – 1999 sendete.

In Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat er seit 1976 zwölfmal auf.

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23.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #28


Thomas Bernhard liest aus seinem soeben im Insel Verlag erschienenen Roman "Verstörung".
Eine Veranstaltung der ÖGfL, 14. März 1967
https://www.mediathek.at/atom/01444DA4-071-00025-00000AF0-0143C490

"Verstörung" ist Bernhards zweiter Roman nach dem 1963 erschienenen "Frost", der seinen literarischen Durchbruch bedeutet hatte, und wurde im Spätherbst 1966 in Brüssel fertiggeschrieben

Als das Buch Anfang 1967 im Insel-Verlag veröffentlicht wurde, hatte Bernhard gerade den Kaufvertrag für den Vierkanthof in Ohlsdorf unterzeichnet. Anfang März fand die Buchpräsentation in der Literaturgesellschaft statt, von der unsere heutige Aufnahme stammt. Die leider nicht erhaltene Einleitung besorgte Gerhard Fritsch, zu diesem Zeitpunkt noch Freund und Unterstützer des sieben Jahre jüngeren Bernhard.

Nur drei Monate später musste Bernhard ins Pulmologische Krankenhaus auf der Wiener Baumgartner Höhe eingewiesen werden: Ein (wie sich später herausstellte, gutartiger) Tumor war diagnostiziert worden. Er verbrachte den ganzen Sommer im Krankenhaus, und im Zuge dieses Aufenthalts wurde eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert: Sarkoidose (Morbus Boeck). An dieser Krankheit würde Bernhard sein restliches Leben lang leiden und schließlich im Februar 1989 auch sterben.

Die Aufnahme der "Verstörung" fiel unterschiedlich aus: Peter Handke verfasste eine lange, positive Rezension, in der er ausführlich auf die Monologe des Fürsten Saurau einging. Marcel Reich-Ranicki traf eine folgenreiche Zuschreibung, indem er Bernhard als eine neue Art eines "österreichischen Heimatdichters" bezeichnete.
Bernhards Autorenkollege Herbert Eisenreich hingegen vernichtete den Roman im ›Spiegel‹ geradezu. Bernhards Replik ist berühmt geworden: In einem Ende Mai 1967, nur wenige Tage vor dem Beginn seines Spitalsaufenthalts, verfassten Leserbrief schrieb er an die Redaktion des Hamburger Magazins:
"Mein nächstes Buch lassen Sie bitte gleich von einem natürlich auch in Oberösterreich geborenen oder ansässigen Schimpansen oder Maulaffen besprechen."

Thomas Bernhard war in den 1960er und 1970er Jahren ein häufiger Gast der Literaturgesellschaft, schon "Frost" war hier im Mai 1963 zum allerersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert worden. Von da an trat er noch weitere acht Mal bei uns auf, zuletzt im April 1978.

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24.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #29

Rudolf Henz: »Wohin mit den Scherben?« (Styria)
(einleitende Worte: Kurt Klinger)
Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, 14. Februar 1979
https://www.mediathek.at/atom/04B10D3A-16A-0006D-0000059C-04B079E4

Rudolf Henz (1897-1987), eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des österreichischen Kulturbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg, war Schriftsteller, Herausgeber und viele Jahre Programmdirektor des ORF.

Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Henz bereits 1919 seinen ersten Gedichtband »Lieder eines Heimkehrers«. Nach dem Abschluss seiner Studien der Germanistik und Kunstgeschichte begann er seine berufliche Laufbahn in der katholischen Volksbildung und wurde bereits 1931 Direktor der wissenschaftlichen Abteilung der ›RAVAG‹ – der ersten österreichischen Rundfunkgesellschaft – die bis zur Gründung des ORF im Jahre 1958 bestand.
Seine Zugehörigkeit zum Austrofaschismus wird nicht nur durch seine Beteiligung im Bundeskulturrat von 1934 bis 1938 deutlich, sondern auch durch das Lied »Ihr Jungen schießt die Reihen tot«, dessen Text er im Auftrag von Kurt Schuschnigg verfasst hatte.
Nach dem ›Anschluss‹ aus all seinen Funktionen entlassen, arbeitete er zwischenzeitlich als Restaurator und Glasmaler, bis er 1945 zur ›RAVAG‹ zurückkehrte, die nun unter die Verwaltung der sowjetischen Besatzungsmacht fiel. In seiner Autobiografie »Fügung und Widerstand« (1963) nennt er »als sein vorrangiges Interesse, einen gesamtösterreichischen und von den Besatzungsmächten unabhängigen Rundfunk aufzubauen.« (https://kk-diskurse.univie.ac.at/autoren-innen-lexikon/detail/article/henz-rudolf/?tx_ttnews%5BbackPid%5D=168297&cHash=1056bfef220662a2687f356e6f0426a2)
Jedoch ist nicht nur seine Funktion im Rundfunk, durch die er an der Einführung des Fernsehens in Österreich maßgebend beteiligt war, für die Kulturpolitik der österreichischen Nachkriegszeit von Bedeutung. Er gründete u.a. die ›Katholische Aktion‹, war Mitglied der ›Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur‹, bei der Wiedererrichtung des österreichischen PEN-Clubs beteiligt und ab 1967 Vorsitzender der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Zusätzlich gab er sowohl die Literaturzeitschrift ›Dichtung der Gegenwart‹, als auch ab 1955 ›Wort in der Zeit‹ sowie dessen Nachfolgerin ›Literatur und Kritik‹ (ab 1966) heraus.

Neben seinen kulturpolitischen Aufgaben war Henz jedoch stets auch als Schriftsteller tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Werke, darunter Lyrik (u.a. »Unter Brüdern und Bäumen«; »Dennochbrüder«), Romane (u.a. »Die Nachzügler«; »Der Kartonismus«), Dramen (u.a. »Die große Entscheidung«), Hörspiele sowie ein Vers-Epos. Sein literarisches Werk befasste sich vorwiegend mit historischen und religiösen Themen.

Zwischen 1964 und 1985 trat Rudolf Henz siebenmal im Zuge von Veranstaltungen der Literaturgesellschaft auf.
Am 14. Februar 1979, las er aus seinem zu diesem Zeitpunkt neuen Roman »Wohin mit den Scherben?« und Gedichte aus seinem zwei Jahre zuvor publizierten Gedichtband »Kleine Apokalypse«.

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27.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #30

Florjan Lipuš: »Die Beseitigung meines Dorfes« und »Verdächtiger Umgang mit dem Chaos« (beide Wieser, 1997)
Florian Lipuš liest auf Slowenisch und der Schauspieler und Sänger Maximilian Müller (»Rosenheim-Cops«) die deutsche Übertragung.
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 25. September 1997
Erster Teil: https://www.mediathek.at/atom/02343CFF-192-00038-00000B18-0233A753
Zweiter Teil: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/145D0717-266-000B5-00000BBC-145C4B47/pool/BWEB/

Florjan Lipuš (geb. 1937 in Lobnik/Lobnig bei Železna Kapla/Bad Eisenkappel in Kärnten) lebt und arbeitet als Schriftsteller und Dichter im kärntnerischen Sele/Sielach.

»Ich danke Peter Handke, dass er denjenigen hilft, die dafür eintreten, dass den Angehörigen dieser kleinen, aber so begabten Minderheit jenes Recht zuteilwird, dass ihr im formalen Bereich zwar nicht vorenthalten wird, aber dort wo das Recht zum Faktischen wird, nicht immer gewährt wird«, sagte der Bundeskanzler Bruno Kreisky am 31. März 1981 im damaligen Museum des 20. Jahrhunderts (heute: Belvedere 21). An diesem Abend hatte Handke nicht nur Florjan Lipuš und dessen Roman »Der Zögling Tjaž«, sondern auch der Kärntner slowenischen Literatur eine Bühne geboten.
Gemeinsam mit Helga Mračnikar, der ehemaligen Lehrerin der beiden Autoren, hatte Handke das Buch ins Deutsche übersetzt und öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt: Die Teilnahme Kreiskys bei der Buchpräsentation eines Angehörigen der slowenischen Volksgruppe war im Österreich der 1980er Jahre keine Selbstverständlichkeit und hatte große Signalwirkung. Schließlich führte der Erfolg der deutschen Übersetzung von »Zmote dijaka Tjaža« (1972) dazu, dass das Buch im Jahr 1981 auch im österreichischen Verlag Wieser auf Slowenisch veröffentlicht wurde. Damit brachte »Der Zögling Tjaž« einen »Aufschwung der Kärntner slowenischen Literatur [...], wie sie ihn davor nicht erlebt hatte« (Janko Ferk).
 
Als Kind Kärntner slowenischer Eltern geboren, wuchs Lipuš in Südkärnten auf. Im Alter von sechs Jahren erlebte er, wie seine Mutter verhaftet wurde – sie hatte als Partisanen verkleidete Gestapomänner in ihr Haus gelassen und bewirtet, woraufhin sie in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und ermordet wurde. Währenddessen musste sein Vater, ein Holzfäller, in der deutschen Wehrmacht dienen. Nachdem Lipuš das katholische Internat Marianum in Tanzenberg besuchte, studierte er Theologie in Klagenfurt, brach allerdings das Studium ab. Daraufhin war Lipuš von 1960 bis 1998 als Volksschullehrer und -direktor in Leppen/Lepena in Kärnten tätig.

Neben seinem Brotberuf als Lehrer gründete er gemeinsam mit Erik Prunč und Karel Smolle 1960 die Kärntner slowenischsprachige Literaturzeitschrift ›mladje‹ (dt. ›Jungholz‹), die er als Chefredakteur bis 1981 leitete. Da hier neben Lipuš auch Janko Messner, Andrej Kokot und Valentin Polanšek große Teile ihrer Werke veröffentlichten, etablierte sich die Zeitschrift in den 1960er Jahren als Sprachrohr und »zentrale[r] Impulsgeber der modernen slowenischen Literatur in Kärnten« (Mirko Bogataj).
Neben dem »Zögling« zählen »Die Beseitigung meines Dorfes« (1997), »Die Verweigerung der Wehmut« (1989) und »Bostjans Flug« (1997) zu Lipuš’ bekanntesten Werken – alle in deutscher Übersetzung. Dabei kreisen Lipuš’ Texte thematisch immer wieder um die Randexistenz der kärntnerisch-slowenischen Kultur in Österreich und die Erinnerung an die Verhaftung seiner Mutter.

So wie es Lipuš bereits 1981 gelungen war, in der österreichischen Kulturlandschaft für Aufsehen zu sorgen, schaffte er das auch in jüngerer Zeit – wenn auch unfreiwillig.
So sollte er 2016 mit dem ›Großen Österreichischen Staatspreis‹ ausgezeichnet werden. Doch er ging leer aus. Einige Jurymitglieder begründeten das hauptsächlich mit einem Argument: Ein österreichischer Autor müsse auf Deutsch schreiben. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Österreichs kam es anschließend zu Diskussion und Kritik.
Zwei Jahre später war es dann soweit: Lipuš erhielt den ›Großen Österreichischen Staatspreis‹. Während die ersten Worte seiner Dankesrede noch slowenisch waren, sprach er dann auf Deutsch weiter und erklärte – in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« – den Anwesenden, unter denen sich auch Peter Handke befand: »Die Muttersprache ist dem Menschen zumutbar.«

In der Literaturgesellschaft trat Florjan Lipuš seit 1986 bislang fünfmal auf. Am 25. September 1997 las er aus den beiden bei Wieser erschienen Romanen »Die Beseitigung meines Dorfes« und »Verdächtiger Umgang mit dem Chaos«.

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28.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #31

Ingeborg Bachmann liest Gedichte.  

Eine Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, 10. Mai 1965
»Böhmen liegt am Meer«: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/1455550E-11A-0075B-00000728-14546246/pool/BWEB/
»Ihr Worte«: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/145555F2-1B1-00760-00000728-14546246/pool/BWEB/
»Freies Geleit«; »Exil«; »Geh, Gedanke«: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/151DC763-0F8-00156-0000074C-151CB836/pool/BWEB/

Anfang des Jahres 1964 unternahm Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) zwei Reisen nach Prag. Begleitet wurde sie vom jungen Schriftsteller und Filmemacher Adolf Opel (1935 – 2018), der sie in Berlin aufgesucht hatte, nachdem er von Wolfgang Kraus, dem damaligen Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Bachmanns Adresse erhalten hatte. Berlin war nach der 1963 endgültig erfolgten Trennung von Max Frisch zu Bachmanns Rückzugsort geworden; hier sollte sie bis 1965, dem Jahr, in dem sie nach Rom übersiedelte, leben.
 
Am 5. Jänner 1964, gleich beim allerersten Zusammentreffen, lud Adolf Opel Ingeborg Bachmann ein, ihn nach Prag zu begleiten. Sie stimmte sofort zu, und bereits am 16. Jänner machten sich die beiden im Zug von Berlin aus auf den Weg in die Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, wo sie eine Woche lang blieben. Eine zweite gemeinsame Pragreise erfolgte kurze Zeit später, vom 27. Februar bis zum 4. März 1964.

Im Zuge dieser Pragaufenthalte dürfte Bachmann das Hotel nur selten verlassen haben, und wenn, dann nur für kurze Spaziergänge. Immerhin konnte sie Blumen auf Franz Kafkas Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof legen – der nach Opel einzige Ausflug, der weiter weg vom Hotel führte. Der Grund für diese seltenen Ausflüge lag einerseits am eisigen Prager Winter, andererseits – und vor allem – an Bachmanns krankheitshalber geschwächtem Zustand.

Was den Pragreisen ihre zentrale Bedeutung für Bachmanns Werk – und wohl für die österreichische Nachkriegsliteratur insgesamt – verleiht, ist ein Gedichtzyklus, an dem sie während der Aufenthalte im Hotel schrieb. Für Bachmann war das Schreiben von Lyrik außergewöhnlich geworden, hatte sie doch seit der Mitte der 1950er Jahre kaum mehr Gedichte verfasst. Umso bemerkenswerter ist es, dass nun unter sehr ungewöhnlichen und schwierigen Rahmenbedingungen das Gedicht entstand, von dem sie später sagen würde, es sei dasjenige, zu dem sie »immer stehen werde«: »Böhmen liegt am Meer«.

Dieses Gedicht, das vom Pragaufenthalt ebenso geprägt wurde wie von Bachmanns Shakespeare-Lektüren – schon der Titel bezieht sich auf Shakespeare’s »The Winter's Tale«, stellte sie etwas mehr als ein Jahr nach der zweiten Pragreise der Öffentlichkeit vor: Im Rahmen einer ihrer seltenen Lesungen las sie es auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zum allerersten Mal vor Publikum.
Leider ist von dieser Veranstaltung am 10. Mai 1965 keine Gesamtaufnahme verfügbar, sondern nur einzelne kurze Ausschnitte. In diesen bekommt man allerdings neben »Böhmen liegt am Meer« vier weitere bedeutende Gedichte zu hören.

Ingeborg Bachmann war oft als Gast der Literaturgesellschaft in Wien. Als sie in Rom lebte, war unsere Gästewohnung im achten Wiener Gemeindebezirk der Ort, an dem sie während ihrer Wien-Aufenthalte die meiste Zeit verbrachte. Im Zuge von Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat sie hingegen nur zweimal auf: 1965 und 1971, zwei Jahre vor ihrem Tod.

(weiterführende Literatur: Hans Höller / Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von »Böhmen liegt am Meer«, Piper, 2016)

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29.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #32

Alfred Kolleritsch: »Die grüne Seite« (Residenz)
Alfred Paul Schmidt: »Als die Sprache noch stumm war« (Europaverlag)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 31. Jänner 1975
https://www.mediathek.at/atom/017828A4-056-0052C-00000BEC-01772EE2

Alfred Kolleritsch (geb. 1931) ist Schriftsteller, Herausgeber, pensionierter Gymnasiallehrer, Lehrbeauftragter an der Universität Graz und einer der bedeutendsten Förderer österreichischer AutorInnen der Gegenwartsliteratur.

Bereits seit Anfang der 1960er Jahre fördert er durch die Herausgabe der renommierten Literaturzeitschrift ›manuskripte‹ junge AutorInnen.
Doch wie kam es zur Gründung dieser bedeutenden Zeitschrift? In einem Gespräch mit Thomas Trenkler berichtet Kolleritsch über ihre Anfänge und beginnende Schwierigkeiten, denn den Veröffentlichungen folgen nicht nur Anerkennung, sondern zwischenzeitlich auch Anfeindungen. So begleiten beispielsweise die Publikation von Oswald Wieners Roman »Die Verbesserung von Mitteleuropa« Anzeigen wegen Pornografie. Doch Kolleritsch lässt sich nicht beirren und publiziert weiter.
Das erste Heft sei eine spontane Idee am Abend vor der Eröffnung des ›Forum Stadtpark‹ gewesen und eine regelmäßige Herausgabe nicht in Sicht. Nachdem er jedoch Lesungen von Gerhard Rühm und H.C. Artmann hört, entscheidet er sich, ihre Texte in einem zweiten Heft abzudrucken. »Ich hab deren Texte gehört und bin aus allen Wolken gefallen. Mir ist diese neue Ästhetik der Wiener Gruppe so ungeheuer wichtig vorgekommen [...]«
https://www.derstandard.at/story/1289609365017/und-irgendwann-kommt-der-natuerliche-tod
Vielen LiteratInnen wie u.a. Barbara Frischmuth, Michael Scharang, Peter Handke, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker ermöglichen die ›manuskripte‹ erstmals Texte zu publizieren.
Kolleritsch selbst veröffentlicht ebenfalls regelmäßig eigene Texte in der Zeitschrift, die Publikation seines ersten Buches »Die Pfirsichtöter. Seismographischer Roman« (Residenz) folgt jedoch erst zwölf Jahre nach ihrer Gründung, im Jahr 1972. Während er stets die Förderung anderer AutorInnen in den Vordergrund stellt, sollte neben seinem großen Lebenswerk nicht auf seine eigenen Prosa- (u.a. »Alleemann« (1989)) und Lyrikpublikationen (u.a. »Die Summe der Tage« (2001)) vergessen werden, die zum einen »autobiographische Züge tragen«, sich zum anderen jedoch »durch ein überaus sensibles Sprachsensorium aus[zeichnen], das die dargestellten Bewußtseinserfahrungen ohne Psychologisierung darzustellen vermag.«
www.onb.ac.at/bibliothek/sammlungen/literatur/bestaende/personen/kolleritsch-alfred-geb-1931/
Abgesehen davon ist er Mitbegründer der Künstlervereinigung ›Forum Stadtpark‹ sowie der ›GAV‹.

In der Literaturgesellschaft trat Alfred Kolleritsch bisher insgesamt siebenmal auf. Im Jänner 1975 präsentierte er seinen kurz zuvor erschienenen Roman »Die grüne Seite« (Residenz). 2001 wurde ebendieses Buch zu seinem 70. Geburtstag vom Droschl Verlag neu aufgelegt.

Alfred Paul Schmidt (geb. 1941) ist Schriftsteller und Drehbuchautor.

Nach abgebrochenen Studien des Kontrabasses sowie der Soziologie und der Pädagogik beginnt er Anfang der 1970er Jahre seinen beruflichen Weg als Schriftsteller. Auch er veröffentlicht zunächst einige Texte in der Literaturzeitschrift ›manuskripte‹. Obwohl Schmidt bereits zahlreiche Romane (u.a. »Fünf Finger im Wind« (1978), »Der wüste Atem« (1984)), Kinderbücher, Hörspiele und Theaterstücke publiziert hat, erlangt er in der breiten Öffentlichkeit v.a. durch seine Drehbücher für Fernseh-Krimi-Serien wie u.a. ›Tatort‹, ›Soko Kitzbühel‹ und ›Stockinger‹ Bekanntheit. Darüber hinaus verfasst er 2001 das Drehbuch zur Romanverfilmung von Heimito von Doderers »Die Wasserfälle von Slunj« sowie über zwei Jahrzehnte lang wöchentlich Aphorismen in der ›Kleinen Zeitung‹.

In der Literaturgesellschaft trat Alfred Paul Schmidt bisher insgesamt fünfmal auf. Zum zweiten Mal, als er im Jänner 1975 aus seinem zweiten Roman »Als die Sprache noch stumm war« (Europaverlag) las.

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30.04.2020
LESUNGEN FÜR ZUHAUSE #33

Manès Sperber: »Macht und Ohnmacht der Intellektuellen: Geschick und Missgeschick der Intellektuellen in der Politik. Ideologie und die Kunst des Möglichen.«
(einleitende Worte von Wolfgang Kraus)
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 23.1.1967
https://www.mediathek.at/atom/0172DD48-159-00167-00000B80-0171E8E6

Manès Sperber (1905 – 1984), geboren in Zablotów, im damaligen Galizien, Teil der Habsburger Monarchie und heute Ukraine, war ein österreichisch-französischer Schriftsteller, Sozialpsychologe, Publizist und Philosoph. Er lebte ab 1916 in Wien, wurde zum Schüler und Mitarbeiter des Individualpsychologen Alfred Adler und zog in der Zwischenkriegszeit nach Berlin, wo er für die Kommunistische Partei tätig war. In deren Auftrag ging er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Paris, distanzierte sich aber Ende der 30er Jahre vom Kommunismus und wurde in weiterer Folge zu einem prominenten Renegaten. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er als französischer Soldat gegen das nationalsozialistische Deutschland; nach der Niederlage Frankreichs gelang es ihm, in die Schweiz zu flüchten. Nach 1945 kehrte er nach Paris zurück, wo er sein restliches Leben verbrachte.

Manès Sperbers umfangreiches, vielfach übersetztes und ausgezeichnetes Werk umfasst neben mehreren Romanen zahlreiche essayistisch gehaltene Schriften zu Politik, Geschichte, Soziologie, Religion, Philosophie, Literatur, Psychologie und Pädagogik, wobei die Auseinandersetzung mit totalitären Systemen als sein Hauptanliegen bezeichnet werden kann.
Neben dem bedeutenden Essay »Zur Analyse der Tyrannis« (Science et Litterature, 1939) und der dreibändigen Autobiographie »All das Vergangene« (Europaverlag, 1974 – 1977) muss die Trilogie »Wie eine Träne Ozean« (Kiepenheuer & Witsch, 1961) hervorgehoben werden, die aus den drei schon zuvor selbstständig publizierten Romanen »Der verbrannte Dornbusch« (Internationaler Universum Verlag, 1949), »Tiefer als der Abgrund« (Europa Verlag, 1950) sowie »Die verlorene Bucht« (Kiepenheuer & Witsch,1955) besteht und als sein Hauptwerk gilt. Die stark autobiographisch geprägte Romantrilogie, in welcher der Protagonist sowohl seine Heimat als auch seine ideologische Beheimatung verliert, wird häufig als politischer Schlüsseltext, als »Roman-Saga der Komintern« (Wynfried Kriegleder) gelesen. In ihr setzte der Schriftsteller sich mit der Problematik auseinander, wie es möglich sei, den Zwängen einer totalitären Ideologie zu entkommen und auf welche Weise es dem Individuum im Angesicht der Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelingen könne, sich moralisch richtig zu verhalten. Dabei bleibt die Hoffnung als Prinzip trotz allem immer bestehen, denn, wie es am Ende der Trilogie heißt: »Wir sind verloren, aber die Sache selbst ist unverlierbar. Wir waren Nachfolger, wir werden Nachfolger haben.«

Manès Sperber war zwischen 1962 und 1981 zwölfmal bei Veranstaltungen der Gesellschaft für Literatur zu Gast. Am 23. Jänner 1967 hielt er den Vortrag »Macht und Ohnmacht der Intellektuellen: Geschick und Missgeschick der Intellektuellen in der Politik«, der an den zwei Jahre zuvor ebenfalls im Palais Palffy gehaltenen Vortrag »Karl Kraus oder das Unglück, ein Moralist zu sein« anschloss und diesen thematisch erweiterte.